Die freundliche Geste
Ein junges Mädchen saß in der Eisdiele und betrachtete gedankenverloren den Ring, den sie vorhin aus einem Kaugummiautomaten gezogen hatte.
Er sollte die Farbe je nach Stimmung wechseln, stand auf dem beigefügten Zettel.
Momentan schimmerte er hellblau. Angeblich hieß das: Entspannt.
Das Mädchen blickte auf und sah die beiden Jungs an, die ihr gegenüber saßen. Der eine mit wuscheligem Lockenkopf, der andere mit langem glatten Zopf.
Beide hatten ihr eine Kugel Eis spendiert und beide mochte sie. Doch sie konnte sich nicht entscheiden, wen sie noch ein bisschen mehr mochte.
Daher legte sie ihre Hand auf den Tisch, sodass die Jungs den Ring sehen konnten. Sie zwinkerte beiden zu und schloss die Finger darum.
„Derjenige, der zuerst an meinen Ring kommt“, sagte sie: „Dem schenk ich einen Kuss. Jeder von euch hat dreißig Sekunden für seinen Versuch“.
Der Wuschelkopf lachte und rief: „Nichts leichter als das“, als wäre er im Märchen.
Er griff entschlossen nach der Faust des Mädchens und versuchte sogleich, die Finger auseinander zu drücken. Das Mädchen zuckte erschrocken zusammen, denn er war ein bisschen grob dabei.
Um so mehr er drückte, umso stärker verkrampfte sich die Hand des Mädchens und ehe sich der Junge versah, waren die dreißig Sekunden schon vorbei.
Der Wuschelkopf lockerte seine Finger und schüttelte niedergeschlagen den Kopf.
Das Mädchen öffnete ihre Hand, atmete kurz durch und besah sich die Farbe des Ringes: schwarz, das bedeutete laut Zettel ängstlich. Trotzdem lächelte sie tapfer.
„Darf ich jetzt?“, fragte der Junge mit dem Zopf.
Das Mädchen wandte sich ihm zu und nickte.
Als er ihre Hand berührte, zuckte sie leicht zusammen, da sie glaubte, auch er würde gleich grob werden, doch die Berührung war ganz sanft.
Er sah ihr kurz in die Augen und fragte dann leise: „Würdest du die Hand für mich öffnen?“.
Dabei strich er behutsam über ihre Fingerknöchel.
Fast wie von selbst, öffnete sich da die Faust des Mädchens und gab den Ring frei.
Sie blickte überrascht auf ihre Hand und lächelte. Denn jetzt war der Ring dunkelblau gefärbt.
Das hieß verliebt.
Aber dafür hätte sie eigentlich gar keinen Zettel mehr gebraucht.
2024, Anna Voge
Glücksnotiz:
Manchmal braucht es nur ein liebes Wort uns sonst nichts.
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